Wenn Inge Lehwald an den Ursprung ihrer Idee zurückdenkt, sieht sie vor ihrem geistigen Auge eine große Wanduhr, deren Zeiger unerbittlich weiterrücken, während sie, nach einem Unfall, in einem Krankenhaus liegt und auf eine dringende Operation wartet.
Der Spezialist, der sie retten kann, ist nicht dort, wo sie ihn in diesem Moment braucht.
Stunden vergehen, in denen andere Patienten in ähnlicher Lage keinen klaren Gedanken fassen könnten.
Inge Lehwald aber grübelt: Was dem deutschen Gesundheitssystem vielleicht am meisten fehlt, ist eine Infrastruktur, die die Beteiligten - Kliniken, niedergelassene Ärzte und Therapeuten, Reha- und Ausbildungseinrichtungen, Apotheken, Pflegedienste, Heime, Krankenkassen, Labore oder Orthodpädiewerkstätten - effizient miteinander verbindet, damit alle stets zur rechten Zeit am rechten Ort das Notwendige tun können.
Der Gedanke ließ sie auch nach ihrer Genesung nicht mehr los.
Reibungslose Kommunikation in kürzester Zeit und auf schnellstem Wege, das war der Informatikerin klar, kann nur mit Hilfe des Internets funktionieren.
Und da strategisches Denken und langer Atem zu ihren besonderen Stärken gehören, entwickelte sie, zunächst in groben Zügen, das Modell eines umfassenden Gesundheitsportals.
„Einzelne Netzwerke gab es ja, zum Beispiel für Apotheken“, sagt Inge Lehwald.
„Doch damit die Probleme, die jetzt von der Politik diskutiert werden, gelöst werden können, müssen alle miteinander kommunizieren.
Vor einigen Jahren allerdings erregte der Einfall, das gesamte Gesundheitswesen zu vernetzen, noch allgemeine Heiterkeit.“
Heute, da dieses Netz von bislang 1400 Mitgliedern - darunter eine Reihe von Kliniken, ein zahnärztliches Netzwerk in Nordrhein-Westfalen sowie ein psychologisches Netzwerk und ein Netzwerk für Glaukompatienten, die beide bundesweit agieren - genutzt wird, kann sie entspannt erzählen, wie sie bei einem Vortrag vor 130 Psychologen, die sie für ihre Idee gewinnen wollte, mitleidig belächelt wurde.
Damals aber wird es ihr nicht leicht gefallen sein, zu verbergen, dass sie sich an einer empfindlichen Stelle getroffen fühlte.
Der Ehrgeiz, der sie treibt, gilt nicht der eigenen Person, sondern dem Gegenstand, für den sie brennt.
Inge Lehwald ließ sich nicht entmutigen.
Widerstand, so scheint es, verstärkt ihre Hartnäckigkeit, und dass es im Gesundheitswesen, wo unterschiedlichste Gruppierungen nicht selten sehr egoistische Ziele verfolgen, Widerstände gibt - mehr versteckte als offene, was die Sache nicht leichter macht -, liegt auf der Hand.
Wer der zierlichen Frau, die weit jünger wirkt als Anfang Vierzig, zum ersten Mal begegnet, mag sie zunächst unterschätzen.
Wer sie näher kennen gelernt hat, nimmt sie sehr ernst.
Befreundete Mediziner, denen der Sinn eines umfassenden Netzwerks einleuchtete, unterstützten sie von Anfang an mit Rat und Tat.
Mit den Gewinnen aus einer erfolgreichen Multimedia-Agentur, die Inge Lehwald damals führte, entwickelte sie ihr Projekt unbeirrt weiter.
2002, als es soweit gediehen war, dass es ihre ganze Kraft brauchte, verkaufte sie die Agentur und gründete die Firma Health-Network mit Sitz in Berlin-Buch.
Den Start finanzierte sie ausschließlich mit privaten Darlehen.
„Mit einem Bankkredit“, sagt sie, „durfte ich nicht rechnen.
Was wir aufbauen, ist immateriell, man kann es nicht sehen oder anfassen.
Und was erwirtschaften, wird gleich wieder in die Firma gesteckt.“
Neben den einmaligen Einrichtungskosten, die nach dem Aufwand bemessen werden und für eine einzelne Arztpraxis bei etwa 700 Euro liegen, wird bei Health-Network nur eine monatliche Mitgliedsgebühr von 9,99 Euro fällig.
Über herablassendes Lächeln oder mangelndes Interesse kann sich die Unternehmerin längst nicht mehr beklagen.
Dr. med. Rainer Neubart, Chefarzt des Evangelischen Krankenhauses Woltersdorf, beispielsweise, ist maßgeblich an der Entwicklung eines geriatrischen Netzwerks für das Land Brandenburg beteiligt.
„Ältere Patienten“, sagt er, „rücken stark in den Blickpunkt, weil sie immer zahlreicher werden.
Sie haben meist mehrere Krankheiten gleichzeitig und dazu eine Menge von Begleitproblemen.
Unser Gesundheitssystem ist jedoch so ausgelegt, dass ein Kardiologe, ein Neurologe, ein Gynäkologe oder irgendein anderer Facharzt sich nur einzelner gesundheitlicher Probleme annimmt.“
Das unkoordinierte Vorgehen ist mit Reibungsverlusten und Ressourcenverschwendung verbunden und für den Patienten oft sehr beschwerlich.
Deshalb strebt das GeriNet Brandenburg eine in die Zukunft weisende, ganzheitliche Altersmedizin an, die in der Wohnumgebung eines Patienten zuverlässig funktioniert.
„Dazu müssen der Hausarzt, diverse Spezialisten und Therapeuten, die Pflegestation, eventuell ein Pflegeheim und viele andere Dienstleister perfekt miteinander und mit einer der zwölf geriatrischen Kliniken im Land verknüpft sein.
Und da kommt Health-Network ins Spiel, weil es Strategien anbietet, die eine solche Kommunikation möglich machen.“
Denn das Netzwerk genügt höchsten Sicherheitsstandards.
Die vor ihrer Registrierung penibel auf ihre Berechtigung geprüften Teilnehmer können sich nur mittels eines Kartenlesegeräts und eines Passworts einloggen, Patientendaten werden über ein geschlossenes System ausgetauscht.
„Wie in einer Rohrpost“, sagt Inge Lehwald.
„Auch meine Mitarbeiter und ich haben keinen Zugang.
Wir stellen nur die Kommunikationsbasis zur Verfügung.“
Es gibt auch keine zentrale Datenbank.
Jedes Mitglied bleibt im Besitz seiner eigenen Daten und übermittelt sie - mit dem Einverständnis des Patienten - per Internet nur dorthin, wohin er sie früher mit der Post geschickt hätte.
Außenstehende erreichen nur die öffentlich zugängliche Oberfläche von www.hnw-deutschland.de, die jedoch auch hohen Nutzwert hat - zum Beispiel, wenn man eine häusliche Krankenpflege, einen Physiotherapeuten oder einen Arzt in der Nähe sucht, dessen Sprechzeiten in Erfahrung bringen will oder an Informationen über gesunde Lebensweise, Gesundheitspolitik, medizinische Forschung, Veranstaltungen oder Fachliteratur interessiert ist.
Dr. Neubart und die anderen Beteiligten des GeriNet Brandenburg prüfen derzeit, ob Health-Network tatsächlich all ihre komplexen Ansprüche erfüllt.
Dr. med. Andreas Gussmann, Chefarzt des Humaine Klinikums Bad Saarow und Leiter des dortigen Kompetenzzentrums für Gefäßmedizin, ist bereits einen großen Schritt weiter.
Sein gemeinsames Projekt mit Health-Network befindet sich seit kurzem in der Erprobungsphase.
Die Gefäßchirurgen, Angiologen und Radiologen des Kompetenzzentrums arbeiten eng mit niedergelassenen Ärzten und mit anderen Kliniken der Region zusammen.
„Es ist sinnvoll, wenn Fachärzte, die pro Jahr mehr als hundert Patienten zu uns schicken, diese ohne Umstände in der Klinik anmelden können“, sagt Dr. Gussmann.
„Deshalb ist das Zentrum über Health-Network mit seinen Haupteinweisern verbunden.
Sie haben Zugriff auf unser Kalendarium, sie sehen, an welchen Tagen Kapazitäten frei sind und tragen ihre Patienten dort ein.
So wissen wir frühzeitig, dass Dr. X am Donnerstag den Patienten Y mit der Diagnose Schaufensterkrankheit zu uns schickt.
Gleichzeitig werden die Vorbefunde per Internet übermittelt.
Wir können alle Vorbereitungen treffen, eventuell noch notwendige Untersuchungen anmelden und Behandlungs- und Operationstermine reservieren.
Alle Beteiligten sparen Zeit, Aufwand und Geld, weil der Patient nicht schon Tage vor einem Eingriff aufgenommen werden muss, und wenn er uns wieder verlässt, ist unser abschließender Bericht schneller beim weiterbehandelnden Arzt als er selbst.“
Niedergelassene Ärzte, die nicht an das System angeschlossen sind, melden ihre Patienten wie bisher per Telefon an und schicken die Vorbefunde auf den üblichen Wegen.
Und selbstverständlich werden Notfälle weiterhin sofort aufgenommen und versorgt.
Health-Network wird von Programmierern, Medizinern und Werbefachleuten nach einem ausgeklügelten Baukastenprinzip ständig weiterentwickelt.
„Die Bausteine“, sagt Gussmann, „sind hervorragend differenziert und frei programmierbar.
Die Plattform bietet phantastische Möglichkeiten, die sich ganz individuell auf den Anwender zuschneiden lassen.
Der muss im Vorfeld nur detailliert klären, was er braucht und will.
Da steckt viel Arbeit drin.“
In der Erprobungsphase wird das System nun verfeinert und auf die Bedürfnisse der einzelnen Teilnehmer abgestimmt.
„Eine niedergelassene Angiologin möchte außer dem Arztbrief vielleicht auch die aktuellen Laborwerte von uns haben, um doppelte Untersuchungen zu vermeiden, während einen weiterbehandelnden Gefäßchirurgen die Laborwerte womöglich überhaupt nicht interessieren, dafür aber der Operationsbericht.“
Im November stellen das Kompetenzzentrum für Gefäßmedizin und Health-Network ihr gemeinsames Projekt auf der Medica in Düsseldorf vor.
Auch andere Mediziner werden den Messebesuchern die Vorteile ihrer Zusammenarbeit mit dem Internetportal erläutern.
Neben der unglaublichen Flexibilität und der Vernetzbarkeit mit anderen Portalen ist die völlige Unabhängigkeit das größte Plus von Health-Network.
„Allein die Mitglieder entscheiden über seine Inhalte“, sagt Inge Lehwald.
„Wir stellen nur die Infrastruktur zur Verfügung.“
Dass weder politische noch industrielle Interessengruppen darauf Einfluss nehmen können, macht Health-Network so vertrauenswürdig.
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